NACHTASYL


Maxim Gorki nannte sein 1901 geschriebenes Stück im Untertitel "Szenen aus der Tiefe". Das naturalistische Nachtasyl war eine schäbige Kellerhöhle, in die sich Ausgestoßene und Deklassierte flüchteten, ein surrealer Ort des Wartens, Hoffens und Überdauerns.
Rund hundert Jahre später, in Zeiten von Hartz IV und dem Abbau des Sozialstaates, sind es Abgewickelte, Abgestürzte, Verführte, Gescheiterte und Chancenlose, die ihren Lebens-Sinn verloren haben. Ausformungen der heutigen sozialen Realität zeigen, dass das bekannteste Stück von Maxim Gorki an Aktualität bis heute nichts verloren hat. Es beschreibt eine nach wie vor aktuelle Problematik: das Auseinanderklaffen der Schere zwischen Arm und Reich, flankiert von der Fragestellung, ob Moral eine Frage von Wohlstand ist.

Im Auftrag von ZDFtheaterkanal und ARTE hat der Regisseur und Drehbuchautor Hardi Sturm nun den von Neue Filmproduktion/NFP koproduzierten Theaterfilm nach Maxim Gorkis „Nachtasyl“ realisiert. Darüber nachdenkend, wie es um die Ordnung jener besten aller Welten bestellt ist, aus der so viele Menschen herausfallen, hinabgerissen werden “in die Tiefe“, hat Hardi Sturm aus der Stückvorlage von Maxim Gorki durch Kürzungen, Verschmelzungen von Figuren und durch veränderte räumliche Kontexte die Grundlage für einen aktuellen Theaterfilm entwickelt. Gedreht wurde auf dem Gelände des ehemaligen Militärflughafens in Neuhardenberg. Dort ist ein fast schon hermetisch geschlossenes, außerhalb der Welt liegendes Nachtasyl entstanden. Ein eigener Kosmos, in dem die Bewohner beständig um sich selbst kreisen. Hierarchiebildungen, Allianzen und Beziehungen werden geknüpft und wieder gelöst, neu zusammengesetzt in einem ewigen Kreislauf des vermeintlich Unausweichlichen.

In Hardi Sturms •Nachtasyl• bilden die Protagonisten eine zufällige Melange von ausgegrenzten Verlierern der Gesellschaft: Der Säufer, die Kranke, der Profitler, die Träumerin. Keiner hat Arbeit, kaum einer Geld und niemand eine Zukunft. Das Leben war nicht gut zu ihnen. Und doch ist die Verelendung dieser Asylbewohner keine des fehlenden Brotes, sondern eine sehr gegenwärtige des Herzens und des Denkens. Sie sind auf den engen Raum einer Notgemeinschaft zurückgeworfen und umkreisen mehr oder weniger hoffnungslos die elementarste Frage des Lebens: Was ist der Mensch?
Sie erzählen sich ihre Geschichten, obwohl jeder weiß: Die große Liebe stammt aus dem Groschenroman, die adlige Herkunft aus dem biografischen Fundus, der Traum vom umjubelten Schauspielerleben aus einem alkoholumwaberten Hirngespinst. Sie alle sind hin und her gerissene Existenzen im unsicheren Fahrwasser verzweifelter Überlebensstrategien, die sich zu keiner rettenden Konsequenz fügen, und doch machen sie das Beste aus ihrer jeweiligen Situation.

Die Figur des Luka, eindrucksvoll gespielt von Hans-Peter Hallwachs, der einzige Visionär, der Wahrheitsbesitzer und Sehnsuchtsmensch, übernimmt die Funktion eines Spiegels. Er kommt als letzter in die Gemeinschaft und betrachtet sie sozusagen von außen, beobachtet ihr Streben nach kleinen Annehmlichkeiten oder ihren Kampf um die letzten Träume und den letzten Rest von Würde. Bis zu seiner Ankunft hat das fragile System leidlich funktioniert, befand sich im Gleichgewicht. Durch Lukas Fragen und durch seinen in die privatesten Nischen der Einzelnen eindringenden Blick, werden Masken runtergerissen und Schutzwälle gebrochen.

Esther Schweins und Wolfgang Maria Bauer, als Bewirtschafter des Nachtasyls, und Max Riemelt in der Figur des Aljoscha stehen beispielhaft für die ungeheure darstellerische Intensität und überführen Gorkis Personnage mühelos ins Heute. In der Montage der Bildsequenzen folgt der Film einer emotionalen, dynamischen Inszenierung: Einsames Hinkauern, ruppiges Wegstoßen, belauerndes Vorüberhuschen und nur leise angedeutete Berührungen stehen im permanenten Wechsel mit eruptiven Demonstrationen von Gemeinschaftsgefühl. Sie alle lieben falsch, spielen falsch, reden falsch. Aber für Momente, die sich einprägen, sind diese Menschen aus dem falschen Leben plötzlich im richtigen: Sie schauen sich selbst zu, und in ihren Gesichtern sieht man gleichsam die Trugbilder platzen, während sie sich aufrappeln und neue Hoffnung schöpfen.


Theaterfilm von Hardi Sturm
Frei nach dem Theaterstück von Maxim Gorki

Mit:

Luka: Hans-Peter Hallwachs
Walli: Esther Schweins
Michael: Wolfgang Maria Bauer
Pepe: Aleksandar Jovanovic
Natascha: Marie Rönnebeck
Anna: Eva Herzig
Andre: Matthias Klimsa
Aljoscha: Max Riemelt
Nadja: Clelia Sarto
Baron: Peter Benedict
Schauspieler: Uwe Karpa
Hassan: Ercan Durmaz
Onkel Medi: Hardi Sturm
Traumprinz: Jan Hartmann

Kostümbild: Jürgen Knoll
Szenenbild: Birgit Esser
Schnitt: Achim Seidel
Kamera: Andreas Köfer
Buch & Regie: Hardi Sturm
Redaktion: Wolfgang Bergmann / Meike Klingenberg


Eine Koproduktion von NFP teleart, ZDFtheaterkanal in Zusammenarbeit mit Arte.
Deutsch-französische Erstausstrahlung, 2005.
Länge: ca. 90 Minuten, 16:9, stereo